Warten – das Fremdwort unserer Zeit

In einer Ära des ständigen Fortschritts und der sofortigen Erfüllung scheint das Warten fast antiquiert. Dieser Beitrag beleuchtet das Thema „Warten“ aus fünf Perspektiven und zeigt, warum es für die heutige Gesellschaft zur Herausforderung geworden ist, das Warten zu akzeptieren und vielleicht sogar als wertvoll zu erachten.

Historisch-sprachliche Perspektive

Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist der Begriff „warten“ in der Gebrauchsliteratur deutlich seltener geworden. Während in den 1950er-Jahren das Warten noch eine allgegenwärtige Realität des Alltags widerspiegelte, hat die rasante Entwicklung hin zu Effizienz und Sofort-Befriedigung das Konzept zunehmend verdrängt. Der Begriff „warten“ hat seinen festen Platz im öffentlichen Diskurs verloren, ersetzt durch Begriffe wie „sofort“ und „direkt“, die die moderne Erwartung von Verfügbarkeit und Geschwindigkeit widerspiegeln.

Diese Veränderung zeigt die kulturelle Verschiebung hin zu einem Leben, in dem Warten als überflüssig oder sogar als Hindernis empfunden wird. Das Warten wurde im Kontext des Alltags fast zu einem Relikt vergangener Zeiten, das kaum mehr in Gebrauchsliteratur oder Ratgebertexten thematisiert wird.

Gesellschaftspolitische Perspektive

Mit zunehmendem Wohlstand ist das Warten zu einem „negativen Luxus“ geworden, den sich viele nicht mehr leisten wollen. Begriffe wie „Warteschlange“, „Warteschleife“ und „Wartezimmer“ sind für viele Menschen Synonyme für Unbehagen. Das Aufkommen von „Fastlanes“ am Flughafen, Priority-Kundenservice und Premiumlieferungen im Online-Handel zeigt, dass das Warten gegen Geld abgekauft werden kann – oft auf Kosten der Umwelt.

Der Konsumrausch der modernen Gesellschaft hat das Warten zur Last erklärt, die nur allzu gerne durch Expresslieferungen und sofortige Verfügbarkeit ersetzt wird. Doch dieser Drang, das Warten zu vermeiden, hinterlässt einen ökologischen Fußabdruck, dessen Folgen zunehmend spürbar sind. Die ständige Verfügbarkeit von Waren hat Auswirkungen auf die Ressourcen und schadet der Umwelt.

Biblische Perspektive

In der Bibel ist das Warten kein Makel, sondern ein Akt des Vertrauens in Gottes Timing. Bibelstellen wie Hesekiel 34,26 („Ich werde sie und die Umgebung meines Hügels zum Segen machen. Ich werde den Regen fallen lassen zu seiner Zeit. Regen des Segens werden das sein.“) und Hebräer 4,16 sprechen davon, dass Gottes Hilfe zur rechten Zeit kommt. Das Warten auf Gottes Antwort ist in der biblischen Tradition ein Ausdruck des Glaubens, dass Gott weiß, was am besten ist, und zur rechten Zeit handelt.

Diese Perspektive zeigt, dass das Warten nicht nur eine Geduldsprobe, sondern eine Chance zur Festigung des Glaubens ist. Im Unterschied zur modernen Sichtweise wird das Warten hier als wertvolle Zeit des Vertrauens und der Hoffnung verstanden, die einen positiven Zweck erfüllt.

Führungsperspektive

Für Führungskräfte ist Geduld oft eine entscheidende Fähigkeit, die das Warten auf Ergebnisse zur strategischen Tugend macht. Wenn es keine kritischen Deadlines gibt, kann das Zuwarten auf die Entwicklung und Rückmeldung des Teams wertvoll sein, besonders in kreativen Prozessen. Geduld zu zeigen, ermöglicht es, dass Gedanken und Ideen reifen können, was langfristig zu besseren Ergebnissen führt.

In kapitalintensiven Unternehmen jedoch, insbesondere in krisenhaften Restrukturierungs- oder Sanierungsphasen, bleibt kaum Raum für Geduld. Der Druck, kurzfristig Ergebnisse zu liefern, die Erwartungen von Shareholdern und die Notwendigkeit, KPIs zu erfüllen, machen das Warten oft zu einem Luxus, den sich viele Unternehmen nicht leisten können. Dieses Spannungsfeld zwischen Druck und der Notwendigkeit, reifere Lösungen zu entwickeln, stellt eine zentrale Herausforderung für moderne Führungskräfte dar.

Psychologische Perspektive

Das berühmte Marshmallow-Experiment, das Walter Mischel in den 1960er-Jahren durchführte, zeigt eindrücklich, wie wertvoll der Belohnungsaufschub für die persönliche Entwicklung ist. Kinder, die in der Lage waren, auf eine spätere Belohnung zu warten, entwickelten später wichtige Eigenschaften wie Selbstkontrolle und Geduld. Diese Fähigkeit zur Geduld wird heute jedoch zunehmend verdrängt, während die Gesellschaft immer stärker auf sofortige Erfüllung setzt.

Martin Luther kommentierte dies bereits vor Jahrhunderten treffend: „Unsere Ungeduld im Leiden, unser Klagen und Wegeschrei gefallen dem Teufel wohl. Er lacht sich darüber ins Fäustchen, denn damit bekommt er uns unter seinen Bannen.“ Diese Perspektive zeigt, dass das Warten eine wertvolle Fähigkeit ist, die uns emotional stärkt und uns vor der Tyrannei der Ungeduld schützt. In einer Kultur, die das Warten als veraltet ansieht, erinnert uns das Marshmallow-Experiment daran, dass Geduld und Belohnungsaufschub zentrale Bausteine eines erfüllten Lebens sind.

Euer Henning Schmale

Henning Schmale verfügt über 20 Jahre C-Level-Erfahrung im produzierenden Mittelstand. Als Dipl.-Ing. und Wirtsch.-Psych. (M.Sc.) bringt er fundierte Kenntnisse in technischen, wirtschaftlichen und psychologischen Veränderungsprozessen mit. Jahrgang 1968, wiedergeborener Christ, verheiratet, Vater von vier erwachsenen Kindern und wohnhaft in Osnabrück.

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Für mehr Informationen: Familienunternehmen – gemeinsam durch die Krise

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Quellen und weiterführende Infos:

Hesekiel 34,26. (Bibelzitat nach HFA, 2015).

Hebräer 4,16. (Bibelzitat nach HFA, 2015).

Mischel, W. (2014). The Marshmallow Test: Mastering Self-Control. New York: Little, Brown and Company.

Luther, M. (ca. 1530). Zitat aus „Tischreden“ [Originaltext].