Anlage und Umwelt: Was uns prägt – Eine psychologische Perspektive

Einleitung zur Unterserie: „Psychologie: Anlage und Umwelt“

In unserer Serie „Psychologie: Anlage und Umwelt“ gehen wir der Frage auf den Grund, wie Gene und Umwelt unsere Persönlichkeit, unser Verhalten und unsere Entwicklung prägen. Es ist eine Debatte, die die Wissenschaft seit Jahrzehnten beschäftigt: Ist es unsere genetische Veranlagung, die bestimmt, wer wir sind, oder formen uns die Einflüsse der Umwelt?

In acht Beiträgen betrachten wir Themen wie:

  • Die Rolle von Erblichkeit und Temperament: Was prägt uns von Geburt an?
  • Zwillings- und Adoptionsstudien: Was wiegt mehr, Gene oder Erziehung?
  • Wie beeinflussen Erfahrungen und Kultur unser Verhalten?
  • Und: Wie können wir dieses Wissen nutzen, um Führung und Zusammenarbeit erfolgreicher zu gestalten?

Mit dieser Serie wollen wir nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln, sondern auch Impulse für die persönliche Entwicklung und den Führungsalltag geben.

Einleitung zum Beitrag 1: „Temperament und Erblichkeit“

Es gibt Menschen, die wirken von Geburt an „besonders“. Sie haben eine auffällige emotionale Ausstrahlung, reagieren intensiver auf ihre Umwelt oder behalten auch in turbulenten Zeiten eine beeindruckende Gelassenheit. Ist das angeboren, oder wird es durch Erfahrungen geformt?

Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie unser Temperament – unsere emotionale Grundausstattung – durch Gene geprägt wird. Gleichzeitig betrachten wir, wie die Umwelt diese angeborene Grundlage beeinflussen kann.

Anekdote: Das Temperament der berühmten Geschwister Mendelssohn

Ein beeindruckendes Beispiel für Temperament und Erblichkeit sind Felix Mendelssohn Bartholdy, einer der bedeutendsten Komponisten der Romantik, und seine Schwester Fanny Mendelssohn, ebenfalls eine brillante Musikerin. Schon als Kinder fielen beide durch ihre außergewöhnliche Musikalität und Kreativität auf. Beide wuchsen in einem Umfeld auf, das ihre Talente förderte, aber ihre Temperamente unterschieden sich stark:

  • Felix galt als lebhaft, impulsiv und ehrgeizig, stets bereit, sich Herausforderungen zu stellen.
  • Fanny hingegen zeigte eine ruhigere, introspektive Seite und war bekannt für ihre einfühlsame Natur, die sich in ihrer Musik widerspiegelte.

Obwohl beide die gleichen Gene und die gleiche Erziehung teilten, entwickelten sich ihre Persönlichkeiten in unterschiedliche Richtungen – ein klassisches Beispiel für die Wechselwirkung von Anlage und Umwelt.

Was ist Temperament?

Das Temperament beschreibt die angeborene emotionale Reaktionsbereitschaft und Stärke eines Menschen. Schon früh zeigen Säuglinge Unterschiede in ihrer Emotionalität, Aktivität und Anpassungsfähigkeit. Einige Babys reagieren lebhaft und intensiv auf neue Reize, während andere gelassener bleiben.

„Das Temperament eines Kindes ist keine leere Leinwand, sondern ein vorgegebenes Muster, das durch Erziehung geformt, aber nicht vollständig verändert werden kann.“ – Thomas und Chess (1987)

Die Rolle der Erblichkeit

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass das Temperament stark durch die Gene beeinflusst wird. Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen, bestätigen, dass genetische Faktoren maßgeblich für Temperamentstypen verantwortlich sind (Kagan et al., 1994). Dabei prägen Gene nicht nur Eigenschaften wie Schüchternheit oder Impulsivität, sondern auch physiologische Reaktionen wie Herzfrequenz und hormonelle Stressregulation.

„Die Erbanlage verteilt die Karten, die Umwelt spielt das Blatt aus.“ – Charles L. Brewer (1990)

Für Führungskräfte bedeutet dies, dass sie die grundlegenden Persönlichkeitszüge ihrer Mitarbeitenden respektieren und gezielt fördern sollten, statt sie umformen zu wollen.

Temperament und Umwelt in Interaktion

Die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie sich Temperament entwickelt. Ein schüchternes Kind kann durch unterstützende Eltern und Erzieher soziale Sicherheit gewinnen, während dasselbe Temperament in einer kritischen Umgebung zur sozialen Isolation führen könnte. Diese Wechselwirkungen sind für Führungskräfte von besonderer Bedeutung: Ein unterstützendes Arbeitsumfeld kann das Beste aus jedem Teammitglied herausholen.

Beispiel:

In einem Team zeigte eine introvertierte Mitarbeiterin außergewöhnliche kreative Fähigkeiten, nachdem sie in einer ruhigeren Umgebung arbeiten durfte, statt sich ständig in dynamischen Meetings beweisen zu müssen.

Praktische Tipps für Führungskräfte

  • Selbstreflexion: Analysieren Sie Ihr eigenes Temperament – wie beeinflusst es Ihren Führungsstil?
  • Mitarbeiteranalysen: Beobachten Sie die Temperamentstypen in Ihrem Team, um ihre individuellen Stärken zu erkennen.
  • Flexible Führung: Passen Sie Aufgabenverteilung und Kommunikation an verschiedene Temperamente an.
  • Förderung: Schaffen Sie ein Umfeld, das introvertierte und extrovertierte Teammitglieder gleichermaßen unterstützt.

Fazit und Take-Away

Das Temperament ist ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung und Umwelt. Für Führungskräfte bedeutet das: Verstehen und Respektieren individueller Unterschiede schafft die Grundlage für ein erfolgreiches Team.

Take-Away:

Nutzen Sie das Wissen über Temperament und Erblichkeit, um eine Führungskultur zu etablieren, die die Stärken Ihrer Mitarbeitenden fördert, ohne ihre Schwächen zu überfordern.

Ausblick auf den nächsten Beitrag

Im nächsten Beitrag vertiefen wir die Frage, wie Gene und Erziehung zusammenwirken, anhand von Zwillings- und Adoptionsstudien. Was zählt wirklich: Nature oder Nurture?

Euer Henning Schmale

Henning Schmale verfügt über 20 Jahre C-Level-Erfahrung im produzierenden Mittelstand. Als Dipl.-Ing. und Wirtsch.-Psych. (M.Sc.) bringt er fundierte Kenntnisse in technischen, wirtschaftlichen und psychologischen Veränderungsprozessen mit. Jahrgang 1968, wiedergeborener Christ, verheiratet, Vater von vier erwachsenen Kindern und wohnhaft in Osnabrück.

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Für mehr Informationen: Familienunternehmen – gemeinsam durch die Krise

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Quellen und weiterführende Infos:

Kagan, J., Snidman, N. (1994). The Long Shadow of Temperament. Cambridge: Harvard University Press.

Chess, S., Thomas, A. (1987). Temperament in Clinical Practice. New York: Guilford Press.

Rothbart, M. K. (2007). Temperament, Development, and Personality. Current Directions in Psychological Science, 

Brewer, C. L. (1990). The Role of Heredity and Environment in the Development of Human Behavior. Journal of Psychological Studies,